
Die legendäre „Haute Route“ wurde Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals von Engländern als „The High Level Route“ begangen, um ohne Umweg über die Täler von Chamonix nach Zermatt zu gelangen. In dieser Periode und Hochzeit der alpinen Bergsteigerei konkurrierten Alpenanrainer (u.a. Italiener, Franzosen, Deutsche) gegen die Briten im Wettlauf um die Erstbesteigungen der höchsten Alpengipfel. Allein in Zermatt befinden sich 38 Viertausender, und über Chamonix thront der Mont Blanc (4810 m), der höchste Gipfel der Alpen. Zwischen diesen beiden heißen Adressen galt es, möglichst schneller als die Konkurrenz zu sein.
Noch heute wird die „Haute Route“ im Winter auf Skiern begangen, oder im Sommer mit Pickel und Steigeisen. Diese hochalpine Route führt ihre Begeher in eine Welt abseits der normalen Wege und konfrontiert sie mit komplett anderen Herausforderungen.
Und genau deswegen haben wir uns dafür entschieden. Weil es wunderschön ist; und wieder mal raus der Komfortzone!

Dieser Sommer war wieder sehr sonnig und trocken (und geht am Jahresende als weiterer Rekordsommer mit den meisten Sonnentagen seit der Wetteraufzeichnung in die Geschichte ein).
Unsere Truppe von 10 Leuten, bunt zusammengewürfelt aus der gesamten Republik (aus Köln, Hamburg, Güstrow, Ost- und Süddeutschland), traf sich zum ersten Mal früh morgens in Herbriggen im Hotel (im Mattertal, CH), um dann mit dem Bus zum Ausgangspunkt „Le Tour“ in Frankreich gefahren zu werden. Da lernten wir auch unsere beiden Bergführer kennen, Mario, ein Italiener (der sein ganzes Leben schon Bergführer war, und kurz vor der „Rente“ stand), und Ferran, einen Spanier, der bereits alle Achtausender bezwungen hatte – beide sehr erfahren, aber auch sie trafen sich zum ersten Mal. Zwei Stunden später mussten wir uns von der Zivilisation (so wie wir sie gewohnt waren) für 7 Tage verabschieden, und hoffen, dass wir alles, was wir brauchten, im Rucksack bei uns trugen.

Eine schweizer Freundin hatte mir ihren (35 l) Rucksack geliehen, mit der sie im Vorjahr die Haute Route gegangen war. „Travel light and fast“ war die Ansage – aber 35 Liter für 7 Tage, da hatten selbst unsere Bergführer gestaunt (die meisten Gäste nahmen größere Taschen mit). Die Wahl des Rucksacks war am Vorabend für mich allerdings alternativlos. Es ging nur noch darum, alles Wesentliche zu identifizieren und reinzuquetschen. Die Hälfte des Inhaltes ist Ausrüstung: Klettergurt, Steigeisen, Helm, Pickel, wetterfeste Kleidung, Stöcke, Stirnlampe, Sonnenschutz, Trinkflasche. Das letzte bisschen Platz, was dann übrig bleibt, wird für die Hüttenausrüstung (Hüttenschlafsack, Seife, Zahnputzsachen, evtl. etwas frische Unterwäsche) genutzt. Meine wasserfeste Hose musste draußen bleiben, im Zweifel musste ich es eben so aushalten. Sieben Tage in denselben Klamotten.
Tag 1

Wir überbrückten den ersten Anstieg mit der Seilbahn zum „Col de Balme“ (2244 m) und machten uns dann auf zu unserem ersten entspannten, ca. 3-stündigen Marsch zum „Refuge Albert 1er“ auf 2704 Höhenmetern. Obwohl wir schon auf über 2000 Metern Höhe waren, wurde uns schnell warm mit all unserer Bergausrüstung, und reihenweise wurden Hosenbeine und Ärmel hochgekrempelt. Erst in der Nähe des Gletschers wehte uns ein etwas erfrischenderer Wind entgegen. Dass es hier oben ungewöhnlich warm war, fiel uns allen schnell auf. Mit einer Mischung aus Faszination und Mitleid erblickten wir den mächtigen „Glacier du Tour“, dem wir immer näher kamen. Und bald auch dem Rauschen der Gletscherbäche, welche direkt auf dem Eis herausschossen. Man meinte, dem Gletscher beim Schmelzen zusehen zu können.

Am Spätnachmittag erreichten wir die Hütte, bezogen unser Schlaflager – wir teilten uns das Matratzenlager wie eine Rotte, die Bergführer wurden meist in anderen Zimmern untergebracht. Danach ging es zum wohlverdienten Bierchen – so lange es warm genug war, saßen wir draußen und genossen den herrlichen Panormablick, aber in dieser Höhe wird es auch schnell frisch, sobald die Sonne nachlässt, und wenn der Wind auffrischt. Wir zogen wir uns nach innen zurück zu unserem Gruppentisch, und lernten uns bei netten Gespächen weiter kennen.

Zu Trainingszwecken für die bevorstehenden Gletscherüberschreitungen übten unsere Bergführer mit uns noch mal das Gehen mit Steigeisen und den Umgang mit dem Eispickel, vor allem beim Erklimmen steiler Flanken. Fähigkeiten, die sich später für die Tour unerwarteterweise als unerlässlich herausstellten.


Tag 2
Von meinen bisherigen Gipfeltouren war ich es gewohnt, dass der Wecker um 2:30 klingelte und wir zwischen 3 und 4 Uhr morgens in die Kälte der dunklen Bergwelt treten würden – und war angenehm überrascht, dass wir bis 6 Uhr schlafen durften. Aufgrund der warmen Wetterlage, was Risiken für die Schneefestigkeit mit sich brachte, entschieden wir uns als Gruppe für den frühen Aufbruch, und waren um 7 Uhr aufbruchbereit. Ich war dankbar für meine Erfahrungen in der Hüttenlogistik – die extrem spartanischen Verhältnisse in den Waschräumen der meisten Berghütten verlangen sehr gute Vorbereitung und pfiffige Lösungen (z. B. für Halterungen für den Waschbeutel). So blieb mir immer noch genügend Zeit für Fotos.

Wir brachen auf zur ersten Tour komplett in die Gletscherwelt, um dabei auch ungesehen wieder die Grenze zur Schweiz zu überschreiten, und abends vor Einbruch der Dunkelheit bei der nächsten Hütte zu sein.

Am Gletscherrand angelangt, legten wir unsere Ausrüstung für den Gletscher an: Steigeisen und Stöcke sind essentiell, um nicht abzurutschen. Durch die Klettergurte sichern sich die Seilschaften gegenseitig ab, um keine Mitglieder durch Sturz in die Gletscherspalten zu verlieren.

Wir waren zwei 6er Seilschaften, der Bergführer an der Spitze, und idealerweise ein erfahrenes (oder schweres) Mitglied am Ende der Seilschaft, die leichteren Mitglieder in der Mitte. Das Seil zwischen den Bergsteigern sollte möglichst auf Spannung gehalten werden, um Stürzen ihre Dynamik zu nehmen und eine schnelle Reaktion der anderen Mitglieder zu ermöglichen. Der dadurch entstehende Abstand verhinderte allerdings das gemütliche Schwatzen miteinander, und man stapfte in der surrealen Eislandschaft, wachsam für die Umgebung, aber dennoch in eigene Gedanken versunken, vor sich hin.

Die Schönheit der Landschaft war atemberaubend, ich konnte mich gar nicht sattsehen, und wollte auch immer wieder Fotos machen. Dabei musste ich aufpassen, nicht aus dem Tritt zu kommen, da das die ganze Seilschaft aus dem Rhythmus bringen konnte.
Bald erwartete uns eine interessante Passage. Durch das niedrige Niveau des Gletschers mussten alle Houte Route Begeher eine Schlüsselstelle im brüchigen Fels überklettern, anstatt darüber hinweg zu schreiten.

Die Gefährlichkeit des losen Felsens war immer wieder Thema während dieser Tour. Aufgrund der trotz der Höhe ungewöhnlich warmen Temperaturen taute der sonst festgefrorene Fels langsam auf. Der sog. Permafrost, ein bisher verlässlicher „Kitt“, der die Alpengebirge stabilisiert, geht zunehmend zurück und gibt loses Felsmaterial frei. Eine zunehmend gefährliche Angelegenheit, insbesondere bei solchen Passagen, auf denen viele Menschen durch die selbe schmale Rinne klettern, und losgetretene Steine auf die weiter unten Kletternden herabzustürzen drohten.

Insbesondere unerfahrene Bergsteiger werden dabei zur Gefahr für andere, und der Gruppe obliegt eine besondere Verantwortung, dieses Risiko zu minimieren. Selbst als mitlerweile erfahrene Bergsteigerin fand ich das Klettern auf diesem losen Gestein sehr schwierig. Wir versuchten, unsere Gruppenmitglieder, vor allem jene, die sich schwerer taten, so gut wie möglich zu unterstützen. Dabei mussten wir auch die übrigen Gruppen und deren Verhalten im Auge behalten, um zu entscheiden, wann es sicher genug war, an den Fels zu gehen.

Als wir die Passage geschafft hatten, wurden wir mit einer spektakulären Aussicht belohnt. Wir hatten den „Col du Tour“ (3281 m), und gleichzeitig die Grenze zur Schweiz überschritten (- und das ganz ohne Passkontrolle!). Wir konnten sogar noch eine kleine „Bonus Tour“ zum „Fenêtre de Saleinaz“ einlegen. Wir blickten über einen kleinen Pass (ohne Abstieg auf die andere Seite, deshalb nur ein „Fenster“) in ein weiteres, scheinbar unberührtes Tal, und ich fand sogar einen schönen Rauchquartz direkt unter meiner Sitzstelle!


Es war auffällig, dass die Gletscher komplett schneefrei waren, blankes Eis. Unsere Bergführer waren entsetzt über deren Zustand.
Am Spätnachmittag erreichten wir die „Cabane d’Orny“ (2831 m) und nutzten die Zeit noch für ein bisschen Klettertraining. Unsere Gruppe war recht schnell voran gekommen, da passte sogar noch ein entspannter Kaffee auf der windgeschützten Sonnenseite rein!


Der Hüttenabend war gesellig wie immer, aber man war auch zeitig im Bett. Morgen wartete eine lange Tour auf uns.
Tag 3

Heute mussten wir nochmal ins Tal absteigen und einen kleinen Transfer machen. Es ging den Höhenweg „Col de la Breya“ hinab zur Seilbahn, hinunter ins hübsche Dörfchen Champex. Hier verlies uns das erste Mitglied, das sich aufgrund einer alten Verletzung nicht mehr in der Lage sah, den Rest der Tour mit uns mitzugehen.


Am „Lac de Mauvoisin“, einem der größten Stauseen der Schweiz, ging es dann wieder hinauf zur „Cabane de Chanrion“. Man hat nicht nur der Hütte angesehen, dass dies hier ein wohlhabendes Fleckchen sein musste. Als wir die Stauermauer des Sees, nicht weit oberhalb des Dorfes, erblickten, verstanden wir es.


Bei der Ankunft in der „Chanrion Hütte“ (2463 m) erlebten wir eine angenehme Überraschung: Hier gab es Duschen! Ein paar von uns haben die Gelegenheit (gegen Obulus) direkt genutzt – wie göttlich so eine Dusche am Berg sein kann!

In der Dusche konnte man direkt auch ein paar Klamotten mitwaschen und in der Sonne trocknen lassen, während man ein erfrischendes Getränk in der ungewöhnlichen Wärme genoss. Es war nicht heiß, aber im Windschatten war die Sonne so warm, dass man es sogar im T-shirt aushielt. Das hatte ich auf Berghütten in dieser Höhe eher selten erlebt.
Tag 4

Am nächsten Morgen ging es wieder früh los. Das Wetter war traumhaft, aber die Wärme tückisch, und wir wollten den Hauptteil der Strecke in den frühen Tagesstunden bewältigen.


Wir arbeiten uns den langen, flachen „Glacier d’Otemma“ hinauf zum „Col der Chermotane“ (3053 m), Richtung „Cabane de Vignette“, mit 3160 m eine der höchsten Hütten, in der wir übernachten würden. Erneut über blankes Eis und klaffende Spalten.


Heute würden wir eine der gefährlichsten Passagen („Col de Vignette“) überwinden müssen. Etwas Vergleichbares hatte ich in meiner Bergsteigererfahrung bisher noch nicht erlebt. Nachdem wir den Gletscher und Geröllanstiege passiert haben, standen wir vor einer (von weitem) unspektakulären Stelle. Bei genauerem Hinsehen entdeckte man aber die überhängende Gletscherkante oberhalb der Stelle. Zum Glück erkannte man den rechtsseitig befindlichen Abgrund erst nach der Passage. Die Bergführer berieten sich kurz abseits von uns, und entschieden dann, dass jeder die Stelle einzeln, ohne Seilsicherung passieren müsse. Als Seilschaft zu queren wäre ein zu großes Risiko für die Gruppe, komplett mitgerissen zu werden, sollte einer das Gleichgewicht verlieren, oder von einem herabstürzenden Eisklotz getroffen zu werden. Es blieb nur, die Stelle zügig, mit größter Vorsicht, und in letzter Konsequenz mit Gottvertrauen, zu durchqueren.

Als mein Vorgänger den Großteil der ca. 300 m langen Strecke hinter sich gebracht hatte, schickte der Bergführer mich los. Der Schnee war schon weich durch die Sonne, und eine Furche zeigte den Weg an, in dessen Spuren man unbedingt bleiben sollte, um nicht auszuruschten. Rechts vom Weg wurde das Gelände nach wenigen Metern eisig und abschüssig, darauf durfte man auf gar keinen Fall geraten. Links stieg die schneebedeckte Flanke an, und aus dem mittig hängenden Gletscherblock schauten mich lauter kleine Höhlen und Kanten an, als wollten sie mir signalisieren, sie hätten alle das Potenial, als nächste abzubrechen. Erleichtert erreichte ich die andere Seite. Auch hier schien mein letztes Stündlein noch nicht geschlagen zu haben. Die Hütte war in nun unmittelbarer Nähe, wir alle haben die Passage gemeistert.

Die „Cabane de Vignette“ war außergewöhnlich. Wie ein Adlernest klebte sie am Fels und bot einen spektakulären Rundumblick. Versorgt wird sie überwiegend über die Luft, daher hat die Hütte sogar eine eigene Landeplattform für Helikopter.

Wir fanden wieder unsere windstillen Ecken und die Sonne strahlte unerbittlich herab, warm und hart. Dass wir mit Sonnencreme und LSF 50 unterwegs waren, verstand sich von selber.

So schön die Geselligkeit in der Gruppe auch war, ab und zu musste man sich auch kleine Auszeiten erlauben. Diese Hütte bot dazu ein paar interessante Fluchten. Die Hängematte über dem Abgrund schnitt in der Beliebheitsskala am besten ab.




Was für eine raue, wunderschöne und beeindruckende Welt. Hier wäre ich am liebsten ein Vogel und könnte über allem fliegen. Nach dem Abendessen erklommen wir noch mal den ‚Ausguck‘ der Hütte (ja, es ging noch ein paar Meter höher, und man musste dafür klettern, daher war da oben nicht allzu viel los).

Man sollte vielleicht nicht unbedingt in den Hüttenschuhen da hochklettern, aber machbar war es durchaus mit ein bisschen Geschick.

Morgen und übermorgen warteten noch einmal spektakuläre Highlights auf uns. Wir hatten uns an das Hütten- und Nomadenleben gewöhnt, kamen gut miteinander aus und das Wetter war durchgehend bombastisch! Wir sahen zwar die Effekte, die das Wetter auf die Gletscher hatte, aber gleichzeitig schätzten wir uns glücklich, diese teilweise recht schwierigen Verhältnisse nicht bei Nässe bewältigen zu müssen. Wir hörten, dass die Mont Blanc Route bereits wegen Steinschlag gesperrt wurde. Ich hatte die Besteigung im letzten Jahr wohl gerade noch rechtzeitig geschafft. Das Bergsteigen wird mit diesen neuen Bedingungen immer schwieriger und gefährlicher. Das sollte uns insbesondere in den kommenden zwei Tage noch mal klarwerden.
Bezüglich unserer morgigen Route machten wir heute Abend ein Spezialbriefing. „We need to make a decision“ meinte unser Bergführer. Auf der geplanten Strecke müssten wir einen Gletscher mit großen Spalten überquren. Die französische Gruppe wurde heute wohl von der Strecke evakuiert, die österreichische Gruppe hatte sich für den Umweg über das Tal entschieden.
Wir entschlossen uns, es trotzdem zu wagen. Unsere Gruppe war ziemlich schnell und gut unterwegs – was sich im Vergleich zu den andere Gruppen, welche die gleiche Route gingen, vor allem bei ihrer Ankunft an den Hütten bemerkbar machte: die Deutschen saßen dann bereits schon beim Bierchen ;-). Entsprechende Kommentare, wenn wir uns unterwegs gegenseitig bei den Pausen überholten, blieben natürlich nicht aus. Es war eine freundliche, unterhaltsame Rivalität. Unser italienischer Bergführer immer ganz vorne dabei mit freundlichen Zurufen: „C’est dur, la montagne…!“ (grins).
Tag 5

Am nächsten Morgen mussten wir noch mal durch die gefährliche Passage am Abgrund vorbei, aber nachdem wir es bereits einmal geschafft hatten, waren wir zuversichtlich, dass wir es auch diesmal überleben würden.

Und wieder verzauberte uns die Landschaft mit Licht und Schatten. Das Gehen auf dem Gletscher ging mitlerweile bei allen routiniert vonstatten, und es blieb genug Zeit für Bilder, Staunen, Scherze und das Nötigste. Die Gefährten waren wieder unterwegs.

Wir waren gespannt auf die Gletscherspalten, und bereits auf dem Weg hinauf, den „Mont Collon“ (3636 m) und „L’Evêque“ (3717 m) im Blick und auf deren Gletscher unterwegs. Dabei kamen wir bereits an einigen gewaltigen Löchern im Eis vorbei. Nach dem „Col d’Evêque“ sollte uns die schwierige Stelle erwarten.

Nachdem wir den Pass überschritten hatten, deutete sich weiter unterhalb bereits an, was uns nun erwarten würde.

Durch das stärkere Gefälle brach der Gletscher an dieser Stelle auf, wodurch riesige Bruchspalten entstanden. Normalerweise sind diese Gletscher auch im Sommer mit Schnee bedeckt, so dass man sie einfach über eine geschlossene Schneedecke passieren kann. Nicht so diesen Sommer.
Wir kamen an das Spaltengebiet heran, nachdem wir uns alle angeseilt, unsere Stöcke weggepackt und und die Eispickel in die Hand genommen hatten. Die würden wir nun brauchen.


Wenn der Vorgänger gerade eine Spalte über eine Brücke überkletterte, stellte man sich als Hintersicherer stabil auf, um im Notfall im Stand halten zu können, falls die Brücke einbrechen sollte. Damit der Nachfolger die Brücke auch noch überqueren konnte, sollte man sie möglichst vorsichtig, sanft und leicht betreten.

Und man sollte sein Handy gut verstauen – ansonsten könnte es einem so ergehen wie unserem Gruppenmitglied, dessen Handy bei einem Schritt dann doch aus der Tasche fiel und sofort in die Tiefe der Spalte hineinglitt.

Zum Glück war das Handy der einzige Verlust. Gruppenmitglieder haben wir keine verloren. Es ging den restlichen Gletscher weiter hinab, der zunehmend wieder in glitschiges Geröll überging.


Der Weg über das Geröll, erst über grobe Blöcke, dann über feineren Moränenkies, war mühsam und es war warm.



Nach einem mühsamen Abstieg entlang des auslaufenden Gletschers ging es im nächsten Tal noch mühsamer wieder hinauf. In der sengenden Sonne, mit all der Bergsteigerausrüstung und über zunehmend loses Geröll, welches vor einigen Jahren noch mit Gletschereis bedeckt war. Zwischen den Blöcken versteckte sich zwischendurch noch Eis, auf dem man ausrutschen konnte. Viele große Felsblöcke wirkten auf den ersten Blick stabil, waren es aber nicht. Umso gefährlicher wäre es aber, so einen großen Fels durch einen Fehltritt in Bewegung zu versetzen und ein Abrutschen oder gar eine Gerölllawine auszulösen. Vor jedem Tritt auf so einen großen Block mußte unbedingt geprüft werden, ob der Fels fest saß bzw. der Schwerpunkt ausreichend Richtung Hang lag.

Unsere Bergführer wurden unruhig. Rechts von uns polterten lauter kleine Steine herab. Sie drängten uns zu größtmöglicher Zügigkeit, insbesondere in dieser letzten Passage kurz unterhalb der Bertolhütte, welche am Ende nur noch über Leitern erreicht werden konnte. Eines unserer Gruppenmitglieder war etwas langsamer und tat sich schwerer beim Anstieg. Wir wechselten uns innerhalb der Gruppe damit ab, ihn beim Klettern zu unterstützen.

Ich liebe Klettersteige, aber der Tag war lang, und uns allen saß die Anstrengung der letzten Tage in den Knochen. Wir arbeiteten uns konzentiert auf die 3311 m hoch gelegene Bertolhütte.

Oben angekommen, wartete die übliche Belohnung auf uns: Weitsicht – und ein kühles Bier! Die Hütte saß auch wieder auf einer Felsspitze, welche man nur über Leitern (oder über die Luft) erreichen konnte. Eine schmale Balustrade ermöglichte die Bewegung um die Hütte (und den Zugang zu den Außentoiletten – mit einer tollen Aussicht, wenn man die Rollläden hochzog, und wenn keiner davor stand, der auch mal musste). Und durch die Füße und das Gitter hatte man auch einen direkten Blick ca. 400 m senkrecht nach unten. Nichts für Leute mit Höhenangst!


Unsere Runde saß fröhlich und ausgelassen beieinander. Die verhohlenen Blicke der österreichischen Gruppe bemerkten wir gar nicht. Dort munkelte man, die DAV-Gruppe sei von der Tour über die Gletscherspalten völlig erschöpft angekommen. Zum ausgelassenen Biertrinken hatten wir jedenfalls noch genug Energie :-).




Da auch der nächste und vorletzte Tag der Route anstrengend sein würde, bereiteten wir am Vorabend alles vor und wollten früh raus. Um dem Gedränge im Frühstücksraum um 5 Uhr zu entgehen, entschieden wir uns letztendlich aber doch für einen späteren Start. Wir waren ja sowieso immer schnell unterwegs, daher beschlossen die Bergführer, dass wir das taktisch auch so angehen konnten.
Tag 6

Während in der Hütte allgemeines Aufbruchschaos herrschte (was bei diesen beengten Verhältnissen auch schwierig werden kann), saßen wir noch entspannt beim Frühstück, und machten uns danach in aller Ruhe auf den Weg.

Was wir auf der einen Seite gestern an Höhenmeter über die Leitern erklommen hatten, mussten wir auf der anderen Seite wieder aufgeben, um auf den Gletscher zu kommen. Unten am Fuß der natürlichen Festung angekommen, entdeckten wir jede Menge alter Blechdosen und alten rostigen Krempel, der schon seit über 20 Jahren dort liegen musste. Und es roch ein bisschen streng. Ein Blick hoch zur Hütte erleuchtete uns rasch: das war der alte Hüttenabort. Wie schön, dass es bei den Hütten mitlerweile moderne Plumpsklos gibt (Wasserspülung gibt es so gut wie nie auf diesen Hütten, und schon gar nicht auf solch abgelegenen).

Und ein letztes Mal seilten sich die Gruppen zusammen und stapften unserem letzten Tag auf den Gletschern entgegen. Das Ziel war die letzte Hütte gegenüber der mächtigen Nordwand des Matterhorns, die „Schönbielhütte“ (2694 m). Und unsere einzige Gipfelbesteigung auf dieser Tour, auf den „Tête Blanche“ (3710 m). Na, immerhin fast ein Viertausender.
Ich hatte dieses Jahr als Vorbereitung ja schon einen Viertausender im Juni bestiegen, den „Alphubel“ in Zermatt. Der Name klingt zwar altmodisch, aber er ist zumindest 4206 m hoch, und zeigte uns seine tükische Eisflanke mit ordentlich Wind.

Wieder einmal hatten wir es mit Büßerschnee zu tun. Dieser entsteht durch das Abschmelzen von Altschnee, wodurch feste Kuhlen entstehen. Es ist relativ mühsam, sich darauf fortzubewegen, weil die Erhebungen zwar oft stabil sind und gute Fußgelenkarbeit erfordert, aber ab und zu auch einbrechen (was auch wieder gute Fußgelenksstabilität erfordert). Ab und zu verschwand auch mal ein Bein in einer kleinen Spalte, aber dazu waren wir ja aneinander geseilt.
Das Wetter und das Panorama waren einfach traumhaft. Sobald wir den großen „Glacier du Mont Mine“ erklommen hatten, würden wir endlich wieder das Matterhorn sehen!


Heute stand auch die Gipfelbesteigung des „Tête Blanche“ (3700 m) an – wenn man man schon unterwegs war, lohnte sich auch noch dieser kleine Umweg von 200 Höhenmetern.

Obwohl die Besteigung nicht sehr anspruchsvoll war, war das Panoroma vom Gipfel aus wiederum gewaltig schön.




Nach der erfolgreichen Besteigung des Gipfels, vielen Fotos und einer kleinen Pause ging es wieder hinab, Richtung Mattertal. Von nun an würde das Matterhorn unser ständiger Begleiter sein.

Auch hier erwartete uns nochmal ein letzter Gruß von dem viel zu warmen Sommer. In Form von gewaltigen Gletscherspalten, durch die wir uns wieder einmal den Weg suchen mussten. Wir sogen es alle tief in uns auf – das würde der letzte Tag in dieser Eislandschaft sein.



Die Gletscherspalten des „Stockjigletscher“ waren allerdings nicht die letzte Herausforderung des Tages. Wir hatten noch eine anspruchsvolle Kletterei durch das Geröll vor uns. Und das unter einer sengenden Sonne. Der dunkle Fels intensivierte die Hitze enorm, die langen Bergklamotten dienten häufiger als Sonnenschutz denn als Wind- und Kälterschutz. Wir bewegten uns durch das Geröllfeld der Überreste des „Schönbielgletschers“, auf zum letzten Aufstieg zur Schönbielhütte. Vor diesem wurde ich bereits gewarnt, das solle eine der letzten harten Stellen der Tour sein. Womit sie recht behalten sollten.




Das Abseilen durch den Bachlauf war anspruchsvoll und es dauerte mindestens eine Dreiviertelstunde, bis die ganze Gruppe da durch war. Aber das war noch nicht der letzte Akt. Der Aufstieg zur Schönbielhütte über das lose Geröll war nerven- und kräftezehrend. Diese Problematik ließ sich auch durch das Training in den letzten Tagen nicht wesentlich verringern. Die Gefahr des Abrutschens war immer gegeben, und erforderte höchste Konzentration und geschicktes Bewegen.


Wir waren alle froh und erschöpft, als wir es endlich geschafft hatten. Die letzten Meter zur Schönbielhütte (2995 m) waren dann ein entspannter Ausklang, mit Vorfreude auf das Bierchen auf der Hüttenterrasse.

Zu dem Bierchen kamen dann weitere hinzu, und ebenso ein großes Stück Schokokuchen, welches wir ohne jegliche Gewissensbisse genossen.
Das letzte Abendmahl war eine Mischung aus Freude und Wehmut. Man freute sich einerseits total auf die Dusche und frische Klamotten, andererseits war es auch schade, dass jetzt schon wieder alles vorbei war. Man wird so stark in diese Bergwelt eingesogen, wenn man in ihr unterwegs und ihr ausgesetzt ist, daß man die Zeit total vergißt. Und dann ist so eine Woche urplötzlich wieder vorbei.
Tag 7

Heute war der letzte Tag der Tour, morgen Vormittag würden wir nur noch gemütlich ins Dorf absteigen, und uns mittags in Zermatt voneinander verabschieden. Er ist doch immer wieder erstaunlich, wie gut fremde Menschen innerhalb einer Woche während so einer außergewöhnlichen Aktivität „zusammenwachsen“ können. Nicht alle frisch geknüpften Bande werden halten, aber ein paar schon….!

Es war eine tolle Tour, und ein ganz außergewöhnliches und schönes Erlebnis. Ich habe nicht so viele Viertausender unter die Steigeisen genommen wie sonst, aber dafür jede Menge Gletscher und Geröllfelder.

Und auch gelernt, daß man tatsächlich mit nur einem 35 Liter Rucksack für eine ganze Woche auskommen kann!

Frankreich/Schweiz, 2022
Alle Bilder: Nora Petersen, CC BY SA 4.0
Kommentare von Nora